„Das Herzstück des Stadions im Spielbetrieb operiert“
Der Neubau der Haupttribüne der Stuttgarter MHP Arena ist eines der größten Stadioninfrastruktur-Projekte des Landes. Eberhard Becker, geschäftsführender Gesellschafter der asp Architekten GmbH, spricht im Interview über das anspruchsvolle Unterfangen.
Stadionwelt: Die asp Architekten GmbH war und ist für den Neubau der Haupttribüne der Stuttgarter MHP Arena zuständig. Bitte skizzieren Sie einmal grob das Projekt.
Becker: Bei unserem aktuellen Projekt wurde das Herzstück des Stadions, die Haupttribüne, bei laufendem Spielbetrieb operiert. Hierbei wurde der Bestand aus den Jahren 1974 und 2000 entkernt, Rohbauanpassungen vorgenommen und nach außen hin erweitert. Zusätzlich wurde die gesamte Unterrangtribüne abgebrochen und sichtlinienoptimiert neu gebaut. Die alte Tribüne bestand aus drei Bauabschnitten mit teilweise sehr schlechten Sichtlinien und geringen Sitztiefen. Durch die Maßnahmen konnten wir die Flächen nahezu verdoppeln und insofern eine EURO 2024-konformen Funktionsbereich realisieren (Spieler- und Pressebereich) wie auch 800 zusätzliche Businessplätze schaffen.
Wir freuen uns, dass wir das bestehende Stadion weiter optimieren konnten und somit einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten konnten.
Weitere Infos zum Stadionprojekt in Stuttgart finden Sie auch im kommenden Stadionwelt INSIDE 1/2024.
Stadionwelt: Die Haupttribüne war der vierte und letzte Teil des Stadions, der noch aus 1974 stammte, die anderen drei Tribünen wurden im Laufe der Zeit bereits nach und nach erneuert. Wie besonders war die Herausforderung, die Tribüne als letztes „Puzzlestück“ einzusetzen?
Becker: Zum einen das Thema „Herzstück des Stadions“ – es mussten Provisorien geschaffen werden für Sport- und Pressebereiche, für die Businesskunden, aber auch für die gesamte zentrale Technik. Man darf nicht vergessen, dass wir die gesamten Umbauarbeiten im laufenden Spielbetrieb gemacht haben und auch während der gesamten Bauzeit der 2. Rang der Haupttribüne aus dem Jahr 2000 in Betrieb war, also direkt oberhalb der Baustelle.
Zudem traf uns das Thema Bauen im Bestand mit voller Wucht – trotz bester Voruntersuchungen und Vorbereitung haben wir im Bereich der Bestandgründungen (die wir aufgrund des laufenden Spielbetriebes im Vorfeld nicht erkunden konnten), aber auch des bestehenden Rohbaus, einige Überraschungen erlebt, die Zusatz- und Ertüchtigungsmaßnahmen erforderlich gemacht haben, die so nicht vorgesehen waren.
Stadionwelt: Nach der Fertigstellung erwartet die Stadion GmbH, über „eine der modernsten Arenen Europas und eine Top-Location für Baden-Württemberg“ zu verfügen. Wodurch zeichnet sich das Stadion aus?
Becker: Es ist ein gewachsenes Stadion, welches wir in verschiedenen Bauabschnitten in den letzten 20 – 25 Jahren modernisiert bzw. größtenteils vollständig neu aufgebaut haben. Trotzdem glauben wir, dass es nicht gestückelt oder gebastelt, sondern aus einem Guss erscheint.
Wir haben eine hohe Kapazität und viele einmalige Features in die verschiedenen Bauabschnitte integriert, u.a. im Jahr 2011 eine Sporthalle für 2.250 Zuschauer, in der parallel zum Stadionbetrieb z.B. Volleyball-Bundesliga gespielt wird. Darüber hinaus erhält die MHP Arena den ersten Tunnel-Club in Deutschland; einen exklusiven Businessbereich im Herzen des Sports mit einmaligen Einblicken in das Spieltags-Geschehen.
Durch den Umbau wird die Arena zudem in ein großes Konferenz- und Veranstaltungszentrum verwandelt, welches außerhalb des Fußball-Spielbetriebes für Konferenzen, Tagungen, Messen und sonstige Veranstaltungen genutzt werden kann.
Stadionwelt: Die MHP Arena Stuttgart musste als einziges deutsches Stadion umfassend fit gemacht werden für die EURO 2024. Sorgten die Anforderungen der UEFA für zusätzliche Schwierigkeiten?
Becker: Tatsächlich hat sich im Zuge der EURO-Bewerbung relativ schnell gezeigt, dass der Funktionsbereich (Sport- und Pressebereich) die Anforderungen an die EURO 2024 nicht erfüllen wird. Die Grundanordnung der Bereiche stammte tatsächlich noch aus dem Jahr 1974 und hatte uns schon zur WM 2006 Kopfzerbrechen bereitet. Aber auch für die Bundesliga und die 2. Liga waren diese Bereiche zu klein und nicht mehr akzeptabel. Insofern hat das Großereignis hier den notwendigen Schub für die Modernisierung gegeben. Im Zuge dessen konnte auch der seit Jahren ausverkaufte Businessbereich entsprechend erweitert und neugestaltet werden. Die Anforderungen der EURO 2024 waren somit praktisch das Raumprogramm für unsere Neuplanungen der Haupttribüne.
Stadionwelt: Die Umgestaltung der Businessbereiche, um ein modernes, zeitgemäßes Hospitality-Angebot bieten zu können, war gewissermaßen der Hauptgrund für die Baumaßnahmen am Stadion.
Den Tunnel-Club, eine der ersten Investition des neuen Club-Partners Porsche, haben Sie schon angesprochen – er soll 215 Gästen ein noch exklusiveres Erlebnis mit direktem Blick in den Spielertunnel ermöglichen. Wie kam es zu der Idee und glauben Sie, dass so etwas in deutschen Stadien fortan Schule macht?
Becker: Tatsächlich wurden in der Konzeptionsphase unserer neuen Haupttribüne in England die ersten zwei Tunnel-Clubs gebaut bzw. frisch eingeweiht. Der VfB ist darauf aufmerksam geworden und wir haben uns das dann in England gemeinsam angeschaut. Nach einigen Gesprächen und Studien dazu war schnell klar, dass wir das hier auch realisieren wollen. Doch wir haben die Vorbilder aus England nicht einfach kopiert, sondern das Ganze noch toller und cooler gemacht. 360 Grad Verglasung mitten im Herzen des Sports. Ich kann mir schon vorstellen, dass andere Bundesligisten ein Auge darauf werfen werden … Allerdings wird es ohne größeren Umbau wahrscheinlich schwierig, so etwas in ein bestehendes Stadion zu integrieren. Wir sprechen immerhin von 600m² Fläche…
Stadionwelt: Neben der Herausforderung „Bauen im Bestand“ stand auch die Nachhaltigkeit weit oben auf der Prioritätenliste, so wurde beispielweise Betonschutt des Abbruchs wiederverwendet. Wie kann man sich das vorstellen und worauf wurde sonst noch geachtet?
Becker: Ich denke, unser größter Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit ist es, die bestehende Immobilie weiter zu nutzen, bzw. besser nutzbar zu machen und bestehende Infrastruktur zu nutzen. Zudem hilft der weitestgehende Erhalt des Rohbaus und somit die Reduzierung von Beton, der ja einen großen Beitrag am CO2-Ausstoß leistet. Wo es sich nicht vermeiden ließ (also im Wesentlichen der Unterrang der Tribüne) haben wir das Abbruchmaterial entsprechend zerkleinert und zu neuem Beton verarbeitet, den wir direkt hier im Stadion wieder eingebaut haben. Der große Vorteil war, dass wir mit den entsprechenden Partnern die Transportwege der Materialien mit ca. 10 km sehr kurz halten konnten. Nur so macht RC-Beton Sinn. Die Herausforderung war, dass der RC-Beton aufgrund der hohen Beanspruchungsklasse nicht geregelt war und wir eine Zustimmung im Einzelfall beantragen mussten. Zusätzlich wurde CO2-reduzierter Beton zum Einsatz gebracht.
Zudem gab es in Bezug auf die Nachhaltigkeit viele weitere Bausteine wie zum Beispiel die Wiederverwendung von Bauteilen am Objekt selbst oder zum Verkauf, die Umrüstung des Flutlichts auf LED-Technik, der Einbau einer Großküche, in der mit regionalen Produkten gekocht werden soll; der Einsatz von ökologisch sinnvollen Materialien und vieles andere mehr.
Stadionwelt: Sind diese Herangehensweisen übertragbar auf andere Bauprojekte?
Becker: Auf jeden Fall! Ich denke das ist die Zukunft des Bauens!
Stadionwelt: Der ursprünglich anvisierte Eröffnungstermin der neuen Haupttribüne (90 % zum Saisonstart, komplett zur Rückrunde 2023/24) konnte ebenso wenig eingehalten werden wie der Kostenvoranschlag (ca. 65 Mio. Euro, dann 97 Mio. Euro, mittlerweile ca. 140 Mio. Euro). Woran lag das?
Becker: Hier muss ich widersprechen. Unser erster großer Meilenstein war die Inbetriebnahme der Public-Plätze zum Saisonstart 2023/24 – das ist uns vollumfänglich gelungen. Unser zweiter Meilenstein ist die Eröffnung der Businessbereiche und -plätze zum ersten Heimspiel der Rückrunde Ende Januar 2024. Das haben wir tatsächlich nicht ganz geschafft, aktuell ist eine Inbetriebnahme für März 2024 geplant. Die benannten Probleme im Bestand und mit dem Baugrund haben uns ungefähr ein halbes Jahr gekostet und das bei einer Bauzeit von 1,5 Jahren. Mit einer 6 - 8 Wochen späteren Eröffnung ist das immer noch ein toller Erfolg!
Bei den Kosten ist es so, dass wir bereits mit Auftragsvergabe eine hohe Kostensteigerung hatten – Hintergrund ist hier, dass unsere Kostenberechnung noch vor Corona erstellt wurde und der Auftrag dann nach Corona und mit Ukraine-Krieg vergeben wurde. In diesem Zeitraum sind die Baukosten in der Größenordnung 35 – 40 % gestiegen. Die Ertüchtigung der bestehenden Fundamente und des bestehenden Rohbaus hat natürlich auch hohe Kosten nach sich gezogen und es mussten in der Folge auch Kosten für Beschleunigungsmaßnahmen eingepreist werden.
Porträts aller Spielorte der UEFA EURO 2024 in Deutschland finden Sie hier.
Stadionwelt: Am 16. Juni steht mit Slowenien-Dänemark das erste EURO-Spiel in Stuttgart an, drei Tage später ist auch die DFB-Elf im sanierten Stadion zu Gast. Worauf dürfen sich die Fans (aus Infrastruktur-Sicht) am meisten freuen?
Becker: Ich denke, die Antwort haben Sie eben schon selbst gegeben: Wir werden eine der modernsten Arenen Europas haben! Die Erschließung im Vorfeld der Haupttribüne wurde neu geordnet, die Zugänge und Treppenanlagen sind großzügig und einladend, die Catering-Versorgung wird sich verbessern, die Beschallung wurde erneuert und so weiter… Aus unserer Sicht steht einer erfolgreichen EM nichts im Wege! (Stadionwelt, 27.02.2024)
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