Industriekletterer: Präzise Höhenarbeiter

Sie arbeiten dort, wo anderen Grenzen gesetzt sind und üben auch in schwindelerregenden Höhen noch präzise Tätigkeiten aus. Die Rede ist von Industriekletterern.

Sie ermöglichen ohne Gerüst und nur mit Seilen gesichert an schwer zugänglichen Orten außergewöhnliche Konstruktionen. Montage- und Wartungsarbeiten stehen dabei genauso auf der Tagesordnung wie Reinigungsarbeiten, Inspektionen und Bauwerksprüfungen. haben dabei einen ganz entscheidenden Vorteil: Während der Ausführung ihrer Arbeit sind sie nur mit Seilen gesichert – den aufwändigen Aufbau eines Gerüsts kann man sich getrost sparen.

Das spart nicht nur Zeit, sondern ist auch wirtschaftlicher. Würde etwa ein Steiger beim Putzen einer Glasfassade zum Einsatz kommen, müsste unter Umständen sogar die Straße gesperrt werden. Hinzu kommt, dass die Höhenspezialisten oft die einzig mögliche Lösung darstellen, um bestimmte Konstruktionen zu realisieren.

Mensch sticht Maschine aus

Im Bauwesen beispielsweise hat sich die Struktur verändert. Die moderne Architektur der Sportstätten, ob Stadien oder Multifunktionsarenen, bringt immer neue – und anspruchsvollere –Fassaden und Dächer mit sich. Die Prägungen gehen hin zu kreisförmigem und ovalen Bauten, und machen die flexible Arbeit der Industriekletterer unverzichtbar. So wäre beispielsweise die Bestückung der Münchener Allianz Arena mit einer 66.000 Quadratmeter großen penumatischen Membranhülle ohne Höhenarbeiter nicht möglich gewesen. Auch das Dach des eigens für die Olympischen Sommerspiele 2012 in London errichteten Olympiastadions hätte ohne das Können der Industriekletterer wohl anders geplant werden müssen.

Die Crystal Hall in Baku, Austragungsort des 57. Eurovision Song Contest, bildete einen weiteren architektonischen Höhepunkt. Die spektakulären, rauten- und dreieckförmigen Membran-Paneele bilden eine Außenfassade, die an große Kristalle erinnert. Da der Einsatz von Steigern aufgrund ihrer begrenzten Schwenkbereiche eingeschränkt ist und ein Gerüst gerade aufgestellt werden muss, sind Industriekletterer die einzige Lösung, um verschachtelte Konstruktionen sie effizient zu realisieren. Diese nutzen eine Seilzugangstechnik, um die schwierigsten Punkte zu erreichen.

Die Aufgabenbereiche bei dieser noch recht jungen Berufsbranche reichen dabei von Montage- und Wartungsarbeiten wie der Anbringung von Dachkonstruktionen (da hier nur schwer und mit einem geringen Radius gearbeitet werden kann) oder der Fassadensanierungen über die Reinigung von Gebäuden bis hin zur Installation von Beleuchtung, Soundinstallationen oder anderer Technik. Des Weiteren werden Industriekletterer zur Großplakatierung, in der Denkmalpflege oder auch zur Montage von Systemen zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt.

Teamwork

Industrieklettern stammt aus dem Klettersport und wurde für die Arbeitswelt weiterentwickelt, wo unter anderem viel Wert auf eine sichere Vorgehensweise gelegt wird. Sicherheit steht bei dieser Berufsgruppe immer an erster Stelle und sie wird auch durch strenge Vorschriften eingefordert. Geklettert wird ausnahmslos mit Trag- und Sicherheitsseil. Letzteres ist mit einem Sicherungsgerät ausgestattet, das beim Versagen des Tragseils automatisch blockiert und somit das Abstürzen des Arbeiters verhindert.

Die Seile müssen eine Mindestbruchlast von 22 Kilonewton aufweisen, was einer Last von zwei Tonnen entspricht. Auch die Kontrolle der Ausrüstung vor jeder neuen Tätigkeit sowie ein mindestens einmal im Jahr durchgeführter Check durch einen Sachkundigen für persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz sind zwingend erforderlich. Zudem wird ausschließlich im Team sowie in Sicht- und Rufweite gearbeitet, damit in Gefahrensituationen rechtzeitig reagiert werden kann.

Höhenarbeiter, Industrie-, Gewerbe- und Fassadenkletterer sollten dabei vor allem eines sein: schwindelfrei. Denn selbst in großer Höhe müssen die Spezialisten einen klaren Kopf behalten und schnell reagieren können. Erfahrene Höhenarbeiter haben ein Gefühl für die Höhen, wenngleich der Respekt nie abgelegt wird. Belastbarkeit und sportliches Geschick sind weitere wichtige Eigenschaften, die ein Industriekletterer mitbringen sollte.

Die Arbeitsplätze werden zwar nicht durch das Emporklettern an der Gebäudefassade oder weiterer Infrastruktur erreicht, sondern durch das Abseilen von oben, dennoch sollten die Höhenarbeiter über eine gute körperliche Verfassung verfügen. Handwerkliches Geschick, Teamfähigkeit und ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken sind ebenfalls von Vorteil und erleichtern die Arbeit in großer Höhe. An einem Punkt geraten jedoch auch Industriekletterer an ihre Grenzen: Gutes Wetter ist nicht kalkulierbar. Niederschlag und Frost erschweren die Arbeiten.

In welchen Preisdimensionen sich die Arbeiten eines Höhenarbeiters bewegen, hängt ganz davon ab, wie schwer die Höhenaufgaben zu bewältigen sind. Das Putzen einer Fassade, wo man sich nur von oben herabseilen muss, wird mit anderen Sätzen berechnet als ein Mega-Projekt im Stadionbau, wo kleine sechsstellige Summen anfallen können, da der Arbeitsaufwand entsprechend umfangreich ausfällt. Unter anderem müssen über Machbarkeitsanalysen die Rahmenbedingungen geprüft und Genehmigungen eingeholt sowie detaillierte Sicherheitskonzepte erstellt werden. Pauschal wird der Stundensatz – je nach Schwierigkeitsgrad – auf 45 bis 70 Euro beziffert.

Sicherheit steht an erster Stelle

Die Ausbildung zum Industriekletterer ist in drei verschiedene Levels unterteilt und wird durch den Fach- und Interessenverband für seilunterstützte Arbeitstechniken e.V. zertifiziert. Die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung G 41 belegt die Höhentauglichkeit für Arbeiten in diesen Einsatzgebieten. In Deutschland muss man außerdem einen zweitätigen Kurs absolvieren, um in eventuellen Gefahrensituationen in außergewöhnlicher Lage Hilfestellung geben zu können. Ab dem 40. Lebensjahr sind zusätzliche regelmäßige Belastungstests wie Sehtests vorgeschrieben.

Einige Generalunternehmer fordern auch unmittelbar vor Arbeitsantritt, dass aktuelle Atteste nachgewiesen werden. Neben einer guten Ausbildung sind aber vor allem Erfahrung und ein eingespieltes Team wichtig. Bauunternehmern empfiehlt es sich, einen Überblick über die vorzuweisenden Zertifikate zu haben und einen Einblick in die Logücher zu bekommen, aus denen Seilstunden der Höhenarbeiter hervorgehen. Diese Angaben können Indikatoren für qualitativ hochwertige Arbeit im Bereich der Industriekletterei darstellen. Auch Einsicht in die Referenzen lohnt sich. Was waren die letzten Baustellen? Waren es Reinigungsarbeiten oder die Montage einer Dachkonstruktion. Vor Ort kann ein prüfender Blick auf die Arbeitsmaterialen geworfen werden. Gute Höhenarbeiter werden nicht mit fabrikneuem Arbeitsequipment erscheinen, sondern mit vertrautem und eingearbeitetem Werkzeug.

... übrigens:

Aktive der Branche benutzen statt dem offiziellen Begriff „Industriekletterer“ bevorzugt die Bezeichnung „Höhenarbeiter“. Klettern wird gemeinhin mit bubenhaftem Turnen auf Bäumen und Gerüsten verbunden. Hinter diesem Berufsbild steckt jedoch mehr als bloßes Herumtollen und Klettern. Höhenarbeiter sind ausgebildete Handwerker (auch Techniker und Ingenieure gehören zu den Arbeitstrupps), die auf Sicherheit bedacht und unter anderem aus dem heutigen Stadionbau nicht mehr wegzudenken sind.

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