Katar 2022: Die weißesten Elefanten der Geschichte?

Acht top moderne Stadien und keines kleiner als 44.000 Plätze – all das in einem Land, in dem die durchschnittlichen Zuschauerzahlen der Profiliga eher drei- als vierstellig sind. Droht die WM die weißesten Elefanten der Geschichte zu produzieren?

Die FIFA spricht von der „nachhaltigsten WM aller Zeiten“, wahlweise wird es auch die „beste WM aller Zeiten“ – die Messlatte für die Fußball-WM 2022 in Katar liegt auf jeden Fall hoch. Das Organisationskomitee des Wüstenstaats setzte ebenfalls von Beginn an auf Superlative und investierte insgesamt 6,3 Mrd. Euro allein in den Bau von Stadien und Trainingsplätzen. Sechs Stadien mussten komplett neu aus dem Boden gestampft werden, zwei Venues konnten immerhin modernisiert werden.

Im Lusail Iconic Stadium findet das WM-Finale 2022 statt.
Im Lusail Iconic Stadium findet das WM-Finale 2022 statt. Bild: Supreme Committee for Delivery & Legacy

Dass es überhaupt „nur“ acht Stadien insgesamt sind, die als Austragungsort der diesjährigen WM dienen, kann man dabei positiv oder negativ sehen. Für ein Land, das halb so groß ist wie Mecklenburg-Vorpommern und weniger Einwohner hat als Berlin, wären gleich 12 oder 13 Stadien entsprechender Größe natürlich unsinnig. Allerdings war genau dies bei der Bewerbungsphase um die WM eben Anforderung und Teil der Bedingungen einer Kandidatur. Gleiches gilt für den Terminkalender. Statt einer Austragung im Sommer (wofür Katar kandidierte) wurde auch der Spielplan nachträglich unvermittelt angepasst; ein WM-Eröffnungsspiel im November hat es noch nie zuvor gegeben. Dass erst im Nachgang der Vergabe und auf massive Proteste hin, die Zahl der Stadien dann auf acht gesenkt wurde und man sich gegen die Austragung bei 50 Grad Außentemperatur entschied, ist vielleicht die richtige Konsequenz, in der gesamten Umsetzung aber schon mindestens fragwürdig. Auch für künftige Vergabeprozesse wirft dies kein gutes Licht auf die FIFA, die weiterhin mit strikten Anforderungsprofilen in die Ausschreibung zukünftiger Turniere geht. Von den Bestechungsvorwürfen und dem hohen Anteil hinterher verurteilter und bestrafter Offizieller, die über die Vergabe nach Katar stimmten, ganz zu schweigen.

Die Anforderungen an die Mindestkapazität der WM-Stadien wurden übrigens nicht angepasst. Das kleine Land baute also für Milliarden neue WM-Stadien (siehe oben) und zusätzlich 40 sogenannte Team Base Camps, die als Trainingszentrum der 32 Teilnehmernationen dienen und jeweils über mindestens zwei Großspielfelder verfügen. Angesichts von zwölf Vereinen in der höchsten katarischen Liga und acht weiteren in der zweiten Liga, ist die zukünftige Nutzung dieser Anlagen ungewiss. Insgesamt hat die WM nach Berechnungen von Front Office Sports knapp 220 Mrd. Euro gekostet, eine Summe, für die der Begriff „Superlativ“ nahezu untertrieben ist. Die zweitteuerste Weltmeisterschaft im Vorfeld war Brasilien 2014, das knapp 15 Mrd. Euro investierte – ein Fünfzehntel (!) der Kataris. Nun hatten auch Brasilien oder Russland (Kosten für die WM 2018: ca. 11,5 Mrd. Euro) damit zu kämpfen, ein anständiges Erbe ihrer WM-Stadien zu organisieren, allerdings verfügen beide Länder auch über eine gewachsene, stabile Fußball- und Sportkultur, für die die Nachnutzung der Venues Sinn macht. In Brasilien besuchen allein in der ersten Fußballliga des Landes jährlich acht Mio. Menschen die Spiele, in Russland ist es immerhin die Hälfte. Selbst wenn das Land Katar durch die WM einen solchen Boom erleben sollte, wie es beispielsweise in Deutschland 2006 der Fall war, wird ein Zuschauerschnitt über eine mittlere vierstellige Anzahl extrem unrealistisch bleiben. Was auch an der begrenzten Entwicklungsfähigkeit des Fußballs im Land und seiner Nationalmannschaft liegt. Nur 300.000 Staatsbürger hat Katar und selbst nach intensiven Sichtungsterminen an der berühmten Aspire Academy, kommt das Land nur auf einen Pool von knapp 5.000 Fußballern, wie die dpa recherchierte. Natürlich kann sich die Liga auch aus komplett ausländischen Spielern zusammensetzen, eine richtige Basis im eigenen Land existiert aber nicht.

Dabei ist Fußball in Katar trotzdem eine der populärsten Sportarten, eine anderweitige Nutzung der Stadien, wie es in Nordamerika nach 2026 der Fall sein wird, wird also schwierig. Die Stadien in den USA, Mexiko und Kanada haben alle bereits zuschauerträchtige Nachnutzer parat, egal ob in der NFL oder im Fußball. Das lässt auch die Nachhaltigkeitsoffensive Katars unrealistisch erscheinen. Milliardenkosten für Stadien, die anschließend nicht weitergenutzt werden können, sind (mindestens) ökologisch ein Problem. Als Lösung dafür kündigte die Erbmonarchie bereits an, Stadien wieder zurück- oder ganz abzubauen (wie das Stadium 974) und an andere Länder zu verschenken oder zu verkaufen. Konkrete Pläne gibt es dafür aber auch zwölf Jahre nach der WM-Vergabe keine. Noch hat sich kein Land gefunden, das Verwendung für ein temporäres Stadion hat, was einmal durch die Welt geschifft werden muss, ohne dass es nicht vor Ort nachhaltiger, günstiger und individueller selbst gebaut werden könnte. Andere Ideen in Katar beziehen sich auf den Bau von Einkaufszentren, Wohn- und Bürogebäuden oder Parks in die Stadien im Anschluss an das Turnier – also alles Investitionen, die auch abgesehen vom Fußball hätten stattfinden können und dafür nicht die Infrastruktur eines WM-Stadions benötigen.

Das Stadium 974 soll nach dem Turnier wieder abgebaut werden und dann in einem neuen Land eine Heimat finden - angeboten als Nachnutzer hat sich aber noch niemand.
Das Stadium 974 soll nach dem Turnier wieder abgebaut werden und dann in einem neuen Land eine Heimat finden - angeboten als Nachnutzer hat sich aber noch niemand. Bild: Supreme Committee for Delivery & Legacy

Apropos Infrastruktur: Selbst nach all den Investitionen ist Katar immer noch nicht gerüstet für den Fanandrang, die ein solches Mega-Event mit sich bringt. Der Großteil aller Fans muss zwischen den Spielen in den Nachbarländern übernachten und anschließend per Flugzeug ein- und wieder ausreisen. Ein Aspekt, den Katar bei der Berechnung des ökologischen Fußabdrucks der WM bisher einfach nicht mit einrechnete. 3,6 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente gibt das WM-OK an, soll der Ausstoß klimaschädlicher Gase durch die WM betragen. Alle Emissionen, die sich nicht einsparen lassen, wolle man im Nachgang kompensieren, also: Zertifikate aufkaufen, die klimafreundliche Projekte wie bspw. Aufforstungen finanzieren. Abgesehen davon, dass sich Katar und FIFA selbst beim Kauf dieser Zertifikate nicht an den weltweit geltenden Richtlinien orientieren, sondern mindestens die Hälfte der Zertifikate über ein eigenes Programm beziehen, das gänzlich andere Maßstäbe an die Wertigkeit dieser anlegt, gibt es auch erhebliche Zweifel an der errechneten Zahl der Gesamtemissionen. Die NGO Carbon Market Watch hat beispielsweise errechnet, dass der echte Wert fast dreimal so hoch sein müsste und näher an 10 Mio. tCO2e liege. So will Katar nur die Emissionen für rund 70 Tage Nutzung ansetzen, also die Zeit der WM- und Vorbereitungsspiele in den Venues. Alle anderen Emissionen würden dann den späteren Nutzern zur Last gelegt, was außer Acht lässt, dass es die Stadien ohne die Weltmeisterschaft wohl gar nicht gegeben hätte. Von „Greenwashing“ und einer WM, die „sicherlich alles, aber nicht umweltfreundlich“ sei, spricht sogar die Deutsche Umwelthilfe im sid-Interview. Dass das Land versuche, Teile der Emissionen durch das Pflanzen von Bäumen zu kompensieren, sei zwar ein guter Ansatz, hätte aber in Ländern außerhalb Katars mehr Sinn gemacht. Aufgrund der Trockenheit und der Hitze des Landes müssen die knapp eine Mio. gepflanzten Bäume nun künstlich bewässert werden – hauptsächlich durch energieintensive Meerwasseraufbereitung. Die Kompensation verpufft im wahrsten Sinne des Wortes.

Einer anderen Art der Kompensation verschließen sich derweil sowohl Katar als auch die FIFA weiterhin: einen Entschädigungsfond zur Unterstützung der Arbeiter (oder ihrer Familien), die für ihre Arbeit im Land gestorben, verletzt oder ausgebeutet worden sind, wolle man nicht unterstützen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern das Land und den Weltverband für einen solchen Kompensationsfond in Höhe von 440 Mio. Euro auf, der Betrag entspricht der Höhe des Preisgeldes, das bei dem Turnier ausgezahlt wird. Auch der DFB hatte eine solche Unterstützungszahlung dem Grunde nach befürwortet, sieht aber die FIFA dafür in der Pflicht.

Steve Cockburn, Experte für wirtschaftliche und soziale Rechte bei Amnesty International, erneuerte in der Woche vor dem Turnierstart seine Aufforderung an den FIFA-Präsidenten, sich für ein solches Konstrukt auszusprechen: „Wenn er sein Schweigen zur Frage der Entschädigung nicht bricht, wird Gianni Infantino eine einmalige Chance verpassen, eine Weltmeisterschaft zu hinterlassen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter, die sie ermöglicht haben, respektiert und ehrt. Ihm wurden unzählige Beweise über die menschlichen Folgen der vergangenen zwölf Jahre vorgelegt sowie ein konkreter Vorschlag, wie den Betroffenen und ihren Familien geholfen werden kann, ihr Leben wieder aufzubauen. Die Botschaft aus Zürich und Doha kann also nicht einfach darin bestehen, sich auf den Fußball zu konzentrieren.“ (Stadionwelt, 17.11.2022)

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